Ein Mann und eine Frau stehen hinter einem Gabelstabler

Wenn Maschinen ihre Mechaniker selbst rufen

Praxisbeispiel aus dem Gemeinschaftsprojekt „Arbeit 2020" zeigt Vorzüge der Qualifizierung von Beschäftigten im Kontext der Digitalisierung.

In einem Werbespot fährt ein Beschäftigter bei einer Firma vor, und der Chef fragt ihn erstaunt: „Was machen Sie hier? Ich habe Sie nicht gerufen.“ In dem Moment fährt ein Gabelstapler vorbei und bleibt liegen. Der kurze Film zeigt die Zukunft, wie sie für die 300 Beschäftigten bei Linde Material Handling Rhein-Ruhr einmal aussehen wird. Eine nicht allzu ferne Zukunft, in der Maschinen ihren Technikerinnen und Techniker selbst rufen, bevor sie kaputtgehen.

Frank Kirchner, Betriebsratsvorsitzender bei der Rhein-Ruhr-Dependance des Flurfahrzeugherstellers, war schon lange klar, dass die Digitalisierung die Arbeit im Service und in der Wartung verändern wird. Als 2016 die IG Metall ihr Projekt „Arbeit 2020“ den Geschäftsstellen vorstellte, wusste er: „Das ist das Projekt für uns.“ 

Veränderungen sichtbar gemacht

Drei Gewerkschaften – IG Metall NRW, IG BCE Nordrhein und NGG NRW – starteten vor fünf Jahren mit dem DGB NRW und finanzieller Unterstützung des Landes NRW und des Europäischen Sozialfonds das Projekt „Arbeit 2020“.  Vor zwei Jahren kam dann die IG BAU Rheinland dazu. Gemeinsam mit der Technologieberatungsstelle und sustain consult unterstützten sie 93 Betriebe in Nordrhein-Westfalen, sich auf den Wandel der Arbeit vorzubereiten und technischen Fortschritt mit sozialem zu verbinden. Im vergangenen Jahr wurde das Projekt abgeschlossen.

Gabi Schilling von der IG Metall NRW, die das Projekt gewerkschaftsübergreifend betreute, beobachtet viel Unsicherheit in den Betrieben: „Die Digitalisierung vollzieht sich an unterschiedlichen Stellen und manchmal zunächst unsichtbar etwa in Form einer neuen Software. Im Projekt konnten wir vorhandene oder bevorstehende Veränderungen im Betrieb sichtbar machen. “Nur durch dieses Wissen konnten die Beteiligten einschätzen, was die Digitalisierung von den Beschäftigten verlangt.

Denn oft reden diejenigen im Betrieb, die entscheiden, wo es lang geht, nicht mit denen, die den Weg gehen sollen. So entsteht eine Wissenslücke, die sich leicht mit Gerüchten und Ängsten füllt. Betriebsratsvorsitzender Frank Kirchner hatte ähnliche Erfahrungen gemacht. „Die Geschäftsführung entwickelte Strategien, die die Beschäftigten nicht kannten“, erzählt er. „Neue IT-Projekte verunsicherten viele und die Weiterbildung lief oft holprig.“ Mit Unterstützung von Beratern aus dem Projekt analysierte der Betriebsrat, was sich an jedem einzelnen Arbeitsplatz in absehbarer Zukunft ändern wird und ermittelte den Schulungsbedarf.

Anfangs stand die Geschäftsführung dem Projekt des Betriebsrats neutral gegenüber. Inzwischen sieht Geschäftsführer Matthias Vorbeck den Mehrwert: „Wir haben uns unabhängig voneinander die gleichen Gedanken zu einem gemeinsamen Ziel gemacht. So hatte ich in dem Betriebsrat einen Mitspieler, der auf das Thema vorbereitet war.“ Der Trend zur Automatisierung mache die Kunden der Gabelstapler zunehmend abhängig von den Fahrzeugen und damit vom Service. „Ein Stahlwerk kann es sich nicht leisten, zwei Tage auf den Servicemitarbeiter zu warten, wenn ein Stapler ausfällt“, sagt Vorbeck. „Auch bei einem Onlinehändler müssen unsere Flurfahrzeuge rund um die Uhr einsatzfähig sein. Fällt einer aus, stauen sich schnell die Lastwagen vor den Logistikhallen.“ Deshalb können die Kunden mittlerweile online anfragen, wo sich ein Techniker oder Technikerin gerade befindet.

Viele Entwicklungen wie die Automatisierung, die Digitalisierung, die Elektrifizierung, aber auch die Internationalisierung der Arbeit – von Essen aus kann theoretisch auch Kunden in Italien geholfen werden – hat der Betriebsrat in seinem Projekt vorausgesehen. Wenn Fahrzeuge ihre Fehler selbst finden, kann das die Arbeit erleichtern. Der Techniker bzw. die Technikerin muss dann nicht lange nach dem Defekt suchen. Gleichzeitig kann die Technik Beschäftigte wie in einem Hamsterrad treiben, in dem sie fünf oder sechs Tage die Woche Vollgas geben müssen. Einfache Arbeiten wie eine Glühbirne wechseln, entfallen durch den technischen Fortschritt, aber damit auch manchmal Verschnaufpausen. „Als Betriebsrat achten wir darauf, dass die Erholung nicht zu kurz kommt“, sagt Frank Kirchner. Damit der Wandel gelingt, braucht es für ihn zwei Dinge: das Bewusstsein in der Belegschaft, dass sich etwas verändern muss und das Vertrauen, dass sie sich darauf einlassen können.

Mit Arbeitsaufträgen ausgestattet

Angesichts des rasanten technischen Fortschritts beobachtet auch Gerhard Bosch, Senior Professor des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen eine große Unsicherheit in den Belegschaften. „Viele fragen sich, was der technische Fortschritt ihnen bringt. Damit Menschen bereit zu Veränderungen sind, muss man auf sie zugehen und ihr Wissen einsammeln“, sagt Bosch. So etwas lasse sich nicht mit dem Arbeitgeber aushandeln. Auch nach Abschluss des Projekts liegt aus seiner Sicht ein weiterer Weg vor den Beteiligten. „Das Projekt hat sie mit einigen Arbeitsaufträgen ausgestattet“, sagt Bosch, der einige der beteiligten Betriebe begleitet hat. 

Fehlerdiagnose am Bildschirm

Bei Linde Material Handling Rhein-Ruhr ist Frank Kirchner froh, dass sie bei dem Projekt mitmachen konnten. Über ein Ergebnis freut er sich besonders: An ihrem neuen Standort gibt es nun ein Schulungszentrum, wo Beschäftigte die Technik der nächsten Staplergeneration lernen.  Vor einer Reihe Tische und Stühle steht so ein Stapler mit aufgeklapptem Motor. Im Vergleich mit den Möbeln werden seine Ausmaße richtig deutlich. Damit das Fahrzeug in den Schulungsraum passt, wurde die Decke im vorderen Bereich extra erhöht.

Solche regelmäßigen Schulungen gab es nicht, als Kirchner anfangs selbst noch im Service unterwegs war. Da kam es vor, dass er ratlos vor einem neuen Modell stand und den Fahrer fragen musste, wie er an den Motor kommt. Angesichts des Fachkräftemangels weiß auch Geschäftsführer Vorbeck, wie wichtig Qualifizierung für das Unternehmen ist: „Wir haben hier Leute, die können mit einer Rolle Draht ein Fahrzeug wieder ans Laufen bringen. Aber das wird zukünftig nicht immer ausreichen. Die Bildschirmarbeit zur Diagnose und Einstellung wird zunehmen. Und wenn ich die Fachkräfte heute nicht habe, muss ich Beschäftigte dafür qualifizieren".

 

Quelle: Dieser Artikel ist zuerst erschienen im Magazin Mitbestimmung" der Hans-Böckler-Stifung (Ausgabe 01/2022)