Wenn der Chef in die Rolle des Mentees schlüpft

Wenn der Chef in die Rolle des Mentees schlüpft

Mentoring 4.0: Jüngere Fachkräfte sorgen für Schwung bei der digitalen Transformation

Junge Menschen bewegen sich wie selbstverständlich in der digitalisierten Welt. Das können sich Unternehmen zunutze machen, indem sie dem Nachwuchs frühzeitig eine verantwortliche Rolle bei der digitalen Transformation von Arbeitsabläufen zuweisen. Das Projekt „Mentoring 4.0“ fördert den Austausch zwischen Jungen und Erfahrenen über altersgemischte Teams – zum Beispiel bei der Konrad Armaturentechnik GmbH.

Wer ganz neu in der Firma ist, ordnet sich zunächst ein, will nicht negativ auffallen, verschafft sich erst mit der Zeit Gehör. So geht eine gängige Erzählung. Wer wollte auch im Ernst als Neuling im Betrieb die Richtung vorgeben und dem Chef oder Abteilungsleiter kluge Ratschläge erteilen? Denkbar erscheint dies allenfalls für Menschen, die direkt auf ihre Kündigung hinarbeiten, oder aber in einem Rollenspiel mit vertauschter Hie­rarchie. Doch die Rollenklischees brechen auf, und das Einbinden neuer Mitarbeiter in verantwortungsvolle Prozesse kann frühzeitig beginnen, wie das im Mittleren Ruhrgebiet (Bochum, Herne, Witten und Hattingen) beheimatete Projekt „Mentoring 4.0 – Mit Wertschätzung zu Wertschöpfung. Generationsübergreifend die Chancen des digitalen Wandels in der täglichen Arbeit nutzen“ zeigt. Das vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) des Landes Nordrhein-Westfalen mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) geförderte Projekt hilft Betrieben, in ihrer Arbeitskultur einen generationsübergreifenden Wissenstransfer bei der digitalen Transformation zu schaffen.

Dabei sieht „Mentoring 4.0“ junge Fachkräfte, die in einem beliebigen Unternehmen anfangen, in einem neuen Licht. Sie sind nicht mehr allein Empfänger des Firmenwissens, das es zu erwerben und zu bewahren gilt. Vielmehr können und sollen sie eine aktive Rolle übernehmen, um im Austausch mit den Erfahrungsträgern die Digitalisierung im Betrieb anzuschieben. Denn mit einem Neuzugang, so die Grundüberzeugung, kommt auch neues Wissen über Programme (Software) in die Firma, mit denen zum Beispiel die Rechnungsstellung schlanker und schneller erfolgen kann. Voraussetzung ist, dass die in den Betrieb gelangenden Generationen mit Internet, digitalen Geräten und Softwarelösungen einen selbstverständlichen Umgang pflegen, der für ältere Kollegen ungewohnt sein kann. Weitere Bedingung ist, dass der Betrieb diesen digital besonders bewanderten Kräften auch die Möglichkeit zur Entfaltung bietet. Damit dreht der Projektansatz die Rollenverteilung des klassischen Mentoring-Prozesses um: Im „Reverse Mentoring“ sind nicht länger die erfahrenen Mitarbeiter und Führungskräfte die Mentoren; sie sind umgekehrt die Mentees, die von den neuen Kräften lernen. In dieser neuen Konstellation profitieren sie von den jungen Kollegen und gestalten mit deren Hilfe gewohnte Abläufe digitaler und damit effizienter.

„Kein Problem mit den Hierarchien“

„Ich habe überhaupt keine Probleme, zwischen den Hierarchieebenen zu wechseln“, sagt Lutz Löbardt. Er ist geschäftsführender Gesellschafter der Konrad Armaturentechnik GmbH aus Bochum, die eins der zehn am Projekt teilnehmenden Unternehmen ist. Unter den beteiligten Firmen befindet sich ein Anlagenbauer ebenso wie eine Apotheke, ein Sanitärfachbetrieb oder ein Feinmechanik- und Systemtechnikunternehmen. Für die Konrad Armaturentechnik GmbH war die Teilnahme ein logischer Schritt. Nach der Übernahme des Betriebs im Jahr 2010 installierte das Ehepaar Lutz und Gerlinde Löbardt ein Qualitätsmanagement (QM), für das die Gattin des Geschäftsführers als Beauftragte verantwortlich zeichnete. Dazu tauchte die Firma tiefer ins Themenfeld digitale Produktionsprozesse ein. Bereits die fachliche Begleitung des 2015 abgeschlossenen QM-Verfahrens war durch das Beratungsunternehmen Management Institut Bochum (mib) erfolgt, das auch mit der Organisation und Durchführung des „Mentoring 4.0“-Projekts betraut ist. Die Beratung zur digitalen Transformation von Arbeitsprozessen, sagt mib-Prokurist und Projektleiter Matthias Bartels, werde inzwischen immer häufiger nachgefragt. Eine Herausforderung dabei sei es häufig, neben den Prozessen selbst auch die Notwendigkeit der Veränderungen betriebsintern zu vermitteln.

Über die frühe Verbindung zum mib war Lutz Löbardt über die Entwicklung des Projekts unterrichtet, das 2018 mit einer Laufzeit von zwei Jahren an den Start ging. Der Chef der Konrad Armaturentechnik GmbH erhofft sich von „Mentoring 4.0“ Hilfe beim überfälligen Umstellen auf moderne Software. Seine Wünsche reichen von verlässlicherer und einfacherer Kalkulation im kaufmännischen Bereich bis hin zur effizienteren Nutzung von CNC-Maschinen im automatisierten Fertigungsprozess. Zunächst konzentriert die Konrad Armaturentechnik sich hierzu auf die Etablierung des Warenwirtschaftssystems und die Unterstützung der Kundenkontaktpflege durch digitale Instrumente. Dafür drückt Lutz Löbardt bereitwillig die imaginäre Schulbank und lässt sich von einem Mitarbeiter in geeignete Computerprogramme einarbeiten.

Nun finden Mentor und Mentee für dieses spezielle Verhältnis weder von selbst zusammen noch bilden sie automatisch ein funktionierendes, generationsübergreifendes Team. Um dies zu gewährleis­ten, wartet das „Mentoring 4.0“-Projekt mit einem weiteren besonderen Merkmal auf: Dem Zweier-Team ist ein externer Mittler zugeordnet, der die Bezeichnung Lotse trägt.

Die insgesamt drei Lotsen im Projekt stellt das federführende Beratungsunternehmen mib. Christopher Pohle ist dort Projektleiter, selbst einer der Lotsen und steuert in dieser Funktion bei Konrad Armaturentechnik den Mentoring-Prozess. Als Lotse muss er im Vorfeld analysieren, welche digitalen Projekte angestrebt werden und über welche digitalen Kenntnisse jüngere Mitarbeiter in den Unternehmen verfügen. Letzteres ist von besonderer Bedeutung, „denn die digitale Kompetenz eines Mentors äußert sich nicht allein darin, dass er mit einem Smartphone und Apps umgehen kann. Sie besteht vielmehr darin, zum Beispiel Excel-Kalkulationen über mehrere Seiten entwickeln zu können.“

Nach dem Matching, also dem Zusammenbringen eines Mentors und eines Mentees, beginnt die inhaltliche Begleitung des altersgemischten Teams durch den Lotsen. Er wird aktiv, wenn der junge Kollege Bereiche erkannt hat, in denen Digitalisierung dem Betrieb weiterhelfen kann. Pohle: „Die Hilfestellung besteht darin, den Jüngeren anzuleiten, wie er dem Älteren die digitalen Möglichkeiten vermittelt.“ Dafür ist natürlich auch an den kommunikativen Fähigkeiten des Teams zu arbeiten. Mentor und Mentee müssen sich für ein funktionierendes Zusammenspiel über ihr Selbstbild und ihre Außenwirkung im Klaren, dazu empathiefähig sein und einen zielführenden Austausch pflegen.

Nachhilfe in Software­anwendungen für den Chef

„Die Stärke des Mentoring-Projekts besteht in der engen Beziehung von Mentor und Mentee, die innerbetrieblich aufgebaut wird und im Vordergrund steht“, sagt Keven Forbrig. Er ist Leiter der Regionalagentur Mittleres Ruhrgebiet, die Unternehmen bei Antragstellungen, Dienstleistungen wie Potentialberatung und Bildungsscheck unterstützt sowie an der Schnittstelle zum Arbeitsministerium die arbeitsmarktpolitischen Ziele des Landes in den Regionen mit umsetzt. Für Keven Forbrig gebe der beigeordnete Lotse lediglich Hilfestellungen, wogegen die inhaltliche Arbeit, also die digitalen Veränderungsprozesse, Mentor und Mentee eigenständig und intern verhandelten.

Bei der Konrad Armaturentechnik GmbH füllte Sven Gerschwitz bis zum Jahresende 2018 die Rolle des Mentors für seinen Chef und Mentee Lutz Löbardt aus. Er war im Unternehmen bis dahin für das Controlling zuständig. Aus dieser Tätigkeit ergibt sich auch ein für das „Mentoring 4.0“-Projekt wesentlicher Arbeitsbereich. Im Controlling erstellte Sven Gerschwitz über zwei Jahre Tabellenblätter, mit denen sich zum Beispiel der Materialverbrauch berechnen lässt und aus denen die Bearbeitungszeiten eines Auftrags abzulesen sind. „Außer mir weiß eigentlich niemand, wie die Tabellen aufgebaut sind“, sagt Sven Gerschwitz. Im Projekt vermittele er seinem Chef genau diese Kenntnisse. Das befähige ihn, die Materialliste künftig selbst mit den neuen Einkaufspreisen zu aktualisieren, was noch nicht automatisch erfolgt. Auch wenn sich im zeitlichen Betriebsablauf oder dem Aufbau von Armaturen etwas ändere, sei das einzupflegen. Damit das Gesagte nicht verpufft, erstellt Sven Gerschwitz zusätzlich einen schriftlichen Leitfaden. Auf diesen kann der Geschäftsführer oder ein anderer Mitarbeiter, der künftig Verantwortung in diesen Bereichen übernimmt, als Hilfsmittel zurückgreifen. „Dies so aufzubauen und zu dokumentieren ist elementar, um Wissen langfristig für das Unternehmen zu erhalten“, sagt Christopher Pohle. Lutz Löbardt empfindet sich in diesem Zusammenhang als lernwilliger Mentee: „Ich bringe sozusagen meine Wissenslücken in Softwarefragen ein.“ Dazu zählt auch Nachhilfe in den Anwendungsmöglichkeiten des Mailprogramms Outlook und der Plattform Share Point, die als Intranet für innerbetriebliche Projekte und Kommunikation dienen kann.

Lotse ist „als neutrale Instanz wertvoll“

Der Lotse übernimmt im „Mentoring 4.0“-Projekt eine weitere relevante Aufgabe. Er hält den Mentor an, den Austausch mit seinem Mentee trotz des vorrangigen Tagesgeschäfts kontinuierlich zu pflegen und zu dokumentieren. Dabei geht es einerseits natürlich um die erzielten und damit motivierenden Erfolge beim Vermitteln digitaler Kompetenzen. „Wichtig sind aber auch die Herausforderungen, die im Zweier-Team entstehen“, sagt Christopher Pohle (mib). Wie das Binnenverhältnis sich entwickelt, ist für den Lotsen von Bedeutung, „damit ich im Mentoring-Prozess nachsteuern kann“. Aus diesem Grund ist ein regelmäßiges Feedback des Mentors an den Lotsen verpflichtend. Zudem hat Christopher Pohle einen regelmäßigen Austausch mit dem Mentee Lutz Löbardt etabliert, um eine Einschätzung des Unternehmers über den Wissenstransfer und den Fortschritt der digitalen Transformation im Betrieb zu erhalten. All diese Möglichkeiten zur Intervention machen den Lotsen „als neutrale Instanz in einem Prozess wertvoll, der nur erfolgreich ist, wenn er kontinuierlich verfolgt wird, sachlich und ziel­orientiert bleibt“, sagt Gerlinde Löbardt. Sie verfolgt mit ihrer Erfahrung aus dem Qualitätsmanagement das „Mentoring 4.0“-Projekt gewissermaßen aus übergeordneter Perspektive und greift bei Bedarf beratend ein.

Eingreifen soll auch der Lotse – und zwar bei der inhaltlichen Ausrichtung des „Mentoring 4.0“-Projekts im Unternehmen. Dies geschah bei der Konrad Armaturentechnik GmbH bei der Überlegung, mit welchen digitalen Mitteln der Kundenkontakt besser gepflegt werden könne. Das berührt grundsätzlich den Bereich des Enterprise-Resource-Plannings (ERP), mit dem zur Verfügung stehende Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden. Lutz Löbardt verfolgte hier anfangs die Idee, mit einem vorhandenen Warenwirtschaftssystem nicht nur die Finanz- und Lohnbuchhaltung zu erledigen, sondern auch Materialkäufe vorzunehmen und Kundenaufträge von der Kalkulation bis zum Geldeingang vollständig abzuwickeln. „Wir mussten aber lernen, unsere Ansprüche zurückzuschrauben“, sagt Lutz Löbardt. Die ganz große digitale Lösung eigne sich vielleicht für ein Unternehmen, in dem überwiegend Routinen herrschen. Im Austausch mit dem „Mentoring 4.0“-Lotsen Christopher Pohle kam er zu dem Schluss, dass ein solch aufwändiges System für sein Unternehmen überdimensioniert sei. „Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein, sondern soll Dinge vereinfachen. Wo es Abläufe bei uns komplizierter macht, weil wir quasi der Maßschneider im Armaturenbau sind, lassen wir es“, sagt Lutz Löbardt. Im Bereich der Kundenkontakte riet Christopher Pohle dem Firmen­inhaber dazu, zunächst die Möglichkeiten von Outlook auszuschöpfen und die Software gegebenenfalls auf die eigenen Bedarfe hin anzupassen.

Ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung

Für die Zukunftsfähigkeit der Konrad Armaturentechnik GmbH sehen Gerlinde und Lutz Löbardt bereits jetzt positive Impulse. Wenn junge Mitarbeiter die Chance erhielten, zu einem frühen Zeitpunkt wichtige Entwicklungen im Unternehmen maßgeblich zu begleiten, lasse dies Rückschlüsse auf die Atmosphäre im Betrieb zu. „Die jungen Fachkräfte von heute legen meist weniger Wert auf Statussymbole“, sagt Gerlinde Löbardt. „Sie möchten lieber einen Chef haben, der menschlich auf Augenhöhe mit ihnen interagiert.“ In Zeiten des Fachkräftemangels sei es daher wichtig, die Offenheit ihres Unternehmens transparent zu machen und damit für sich zu werben. „Hier äußert sich die Haltung und die Kultur eines Unternehmens“, sagt Lotse Christopher Pohle. Der Ansatz des generationsübergreifenden „Reverse Mentoring“ könne allgemein zu Befruchtungsprozessen innerhalb eines Unternehmens führen und den wertschätzenden Umgang von zum Teil sehr unterschiedlichen Mitarbeitern fördern. „Auch wenn der Hauptfokus des Projekts auf dem Transfer von Jung zu Alt liegt, ist dies nicht als Einbahnstraße zu verstehen“, sagt Christopher Pohle. So vermittele nicht nur der Jüngere sein Methodenwissen über digitale Werkzeuge an den älteren Kollegen. In umgekehrter Richtung erfolge gleichzeitig nahezu automatisch der Transfer von Fach- und Erfahrungswissen vom Älteren auf den Neuzugang. „Damit lassen sich die Tools und Methoden des Reverse Mentoring im Projekt auch auf alle anderen Prozesse und Bereiche des Wissensaustausches anwenden“, sagt Christopher Pohle. Um die beteiligten Unternehmen zusätzlich zu unterstützen, ermöglicht das „Mentoring 4.0“-Projekt über die Beratung in den einzelnen Firmen hinaus Gruppenworkshops und organisiert andere betriebsübergreifende Treffen für den Erfahrungsaustausch.


Text: Volker Stephan

Quelle: Dieser Text ist zuerst erschienen im G.I.B. Info 2/2019.